
Was wird aus dem Journalismus?
Wenn die Exklusivität der Nachrichten unwiederbringlich verloren ist, muss eine neue gesellschaftliche Aufgabe her. Gibt es jetzt eine Verschiebung von der Macht der Selektion der Nachrichten zu der Macht der Interpretation der Nachrichtendaten?

Mut zur meinung: „Die grundlegende mechanik des Journalismus muss sich ändern.“
Die Suche nach einem tragfähigen Finanzierungsmodell ist zum Sinnbild der medienkrise geworden. doch wer über die Wirtschaftlichkeit von Medien nachdenkt, muss auch über ihre öffentliche bedeutung nachdenken. die grundlegende mechanik des Journalismus muss sich ändern, weil sich auch die gesellschaft und deren Umgang mit Informationen geändert hat. Medienschaffende müssen akzeptieren, dass sich ihre Leserschaft nicht mehr in der passiven Rolle des Rezipienten sieht, sondern selbstbestimmt am gesellschaftlichen Diskurs teilnimmt. Nachrichten sind zum Allgemeingut ohne Wert geworden. dies widerspricht der basisdemokratischen Idee des Journalismus, wonach nur der Austausch von meinungen einen öffentlichen Konsens zu schaffen vermag. Mit Politnetz betreiben wir eine Plattform, die diesen Grundsatz zu verinnerlichen versucht und den Bürger nicht ans Ende, sondern ins Zentrum der Informationskette stellt. Wer mutige, selbstbestimmte Citoyens will, der muss auch einen mutigen und meinungsbildenden Journalismus wollen. Eine Demokratie funktioniert nur durch die einbindung aller gesellschaftlichen kräfte. und so ist es auch mit dem Journalismus, welcher als vierte Gewalt demokratisiert werden muss. Die Treiber: Pluralität und Meinungswettbewerb.

Open Journalism ist die Zukunft: „Wir befinden uns in der Transformation hin zu einem digitalen medienunternehmen.“
Meine hauptaufgabe als CEO der guardian media group ist es, ein wegweisendes und finanziell stabiles Umfeld für den Guardian, the Observer und theguardian. com zu sichern, damit diese innovativ und unabhängig bleiben können. in dieser Hinsicht ist GMG von solider gesundheit. Unsere besondere Eigentümerstruktur sichert eine langfristige Unterstützung. Wir waren unter den ersten Anwendern der Digital-First-Strategie und sind weiterhin in der Transformation hin zu einem digitalen Medienunternehmen mit der Kernkompetenz „Open Journalism“. Dadurch ändert sich unsere redaktionelle Position: Die Distanz zwischen Lesern und Journalisten wird überbrückt, Expertengemeinschaften bilden sich und es kommt zu einer erhöhten Interaktion. Diese Rolle hat uns unter anderem zu neuen Umsätzen verholfen. Der freie Zugang zu unseren Artikeln ermöglicht neue kommerzielle Partnerschaften. Zum Beispiel gibt es „Guardian Witness“, eine innovative Zusammenarbeit mit dem größten britischen mobilfunkanbieter, bei der die leser bilder, videos und geschichten aus der ganzen Welt einsenden können. Kurzum, bei guter Berichterstattung entsteht ein Vielzahl geschäftlicher Möglichkeiten. So demonstrieren wir, auch auf unseren neuen märkten uSa und australien, unsere redaktionelle relevanz. Je deutlicher diese Relevanz für das weltweite Publikum ist, umso lauter wird unsere Botschaft gehört und umso stärker können wir den offenen Journalismus vorantreiben.

Neue tools und alte tugenden: „Urteilsvermögen bleibt entscheidend – auch im Journalismus von morgen.“
Technologie und Journalismus gehen seit langem Hand in Hand. Manchmal bringt die technologie den Journalismus voran, und manchmal ist es umgekehrt. Klar ist in jedem Fall, dass Consumer-Technologien die gesamte medienbranche auf den kopf stellen und an unserem Grundverständnis von Nachrichten und Journalismus rütteln. das stellt die redaktionen in aller welt vor enorme Herausforderungen, denn es wird nicht leichter, ein immer weiter versprengtes Publikum mit den richtigen Inhalten, zur richtigen Zeit und über die richtige Plattform zu erreichen. doch dieser wandel birgt auch gewaltige Chancen und glücklicherweise können Journalisten und redakteure heute auf eine Fülle von Werkzeugen, Methoden und Strategien zurückgreifen, um die Leser in ihren Bann zu schlagen. Datenjournalismus, Datenvisualisierung, Social Media, Multimedia-Storytelling und Crossmedia-Systeme – dies sind nur einige der Spielarten, mit denen Journalisten ihre Fähigkeiten und reichweiten ausbauen können. eine eingehende betrachtung der hochklassigen lösungen auf der World Publishing Expo in Berlin und die diskussionen und Fachgespräche in den Konferenzen werden dies bestätigen. Doch auch der Einsatz noch so raffinierter Tools erfordert journalistische Unvoreingenommenheit, Integrität und Urteilskraft. Letzten Endes läuft alles auf die Grundidee hinaus, warum wir dieses Geschäft betreiben. Und dabei fällt mir immer wieder ein kluger Satz von Arthur Sulzberger von der New York Times ein, der auf die Frage „Was verkaufen Sie?“ einmal geantwortet hat: „Wir verkaufen Urteilskraft!“ Das sollten wir stets im Kopf und im Herzen behalten, wenn wir weiterhin erfolgreich sein wollen.

Wer wie ich als freier Journalist überleben will, der muss unternehmerisch denken und handeln - oder reich heiraten. Der Unternehmer-Journalist ist ein beratender, textender, fotografierender etc. Dienstleister oder Direktvermarkter eigener Projekte und Produkte. Dieser Medienhandwerker schaut zuerst auf den Umsatz. Hohe journalistische Ansprüche sind da nachrangig. Die Zahlen müssen stimmen.

Sie fragen, was wird aus dem Journalismus? Besser wäre die Frage: Was ist Journalismus heute? In den meisten Fällen sind Journalismus und Darstellungen in anderen Medien nur noch kurzatmige, marktschreierische Effekthascherei nach BILD-Manier und nach Art von „Wetten, daß…“. Früher gab`s dafür „Waschweiber“ und Moritaten-Sänger, heute Schnellschreiber, Selbstdarsteller und primitiv Blödelnde, ohne Fähigkeit etwas ernsthaft zu hinterfragen. Ihnen scheint der Wille und das Können mehr und mehr abhanden zu kommen, erst gründlich zu recherchieren bevor man etwas von sich gibt. Ohne andere Meinungen aufzuzeigen, fair zu berichten bzw. darzustellen, schreiben und plappern sie aus ihrem Bauch heraus oder weil`s der Boss und das Kapital verlangen. Da wird der belanglose Stinkefinger eines Kanzler-kandidaten für die Medien wichtiger als die Probleme dieser Gesellschaft. Was ist Journalismus heute? Größtenteils ein das Volk verblödendes Gewerbe. Vielleicht eine Entschuldigung für die junge Journaille: sie stammt selbst aus dieser mehr und mehr oberflächlichen, gleichgültigen, verblödenden Gesellschaft. Die Alten und Verantwortlichen dieser Zunft sind in erster Linie daran schuld. Und die Medien- und PR-Industrie, Springer, Bertelsmann sowie die sogenannten Volksparteien wirken auf breiter Front. Und so kommt das Kapital mit diesen Medien seinem Ziel immer näher - der oberflächliche, gleichgültige, verblödende Verbraucher.

Die Kunst der Zunft Journalisten gehen die Verpflichtung ein, wahrheitsgemäß zu berichten. Sie schauen hinter die Fassaden und hinterfragen politische Entscheidungen, die für uns in Vertretung getroffen werden. Journalisten vermögen es, sich subtil an unsere Synapsen der Emotionen und Handlungsmotivationen anzudocken. Sie erzählen Geschichten, die das Leben schreibt. Der Beruf erfordert Fingerspitzengefühl und kontinuierlich höchstes moralisches Selbstverständnis. Immerhin versuchen sich auch Pressesprecher und Werber zuweilen auf journalistischem Parkett. Ihre Botschaft soll den Weg zum Empfänger finden. Dies natürlich bestenfalls verpackt und umhüllt in adretten Beiträgen statt traditioneller Anzeigen. „Landet“ jene Botschaft dann tatsächlich eins zu eins in der Zeitung des Vertrauens, abgegolten mit einer zusätzlichen Anzeige oder einer Aufwandsentschädigung, strahlt der journalistische Fauxpas in alle Richtungen. Abgesehen vom ethischen Verstoß gegen den Berufskodex und der selbstständig vorgenommenen Beschneidung der eigenen Pressefreiheit, landet das jeweilige Medium schneller im Papierkorb als ein Letter auf Papier. Denn sogenannte Advertorials und augenscheinlich geschickt eingefädelte und möglichst zwischen den Zeilen platzierte PR-Artikel – laut Wirtschaftsvertreter vom Leser nicht zu bemerken – werden unbestritten spätestens beim vertieften Lesen identifiziert. Diese Deckmantel-Prozesse untergraben eine Zunft, welche nicht nur Geschichten schreibt, sondern vor allem Historie. Hart erkämpfte Freiheiten dürfen so nicht verschachert werden – auch und schon gar nicht zu einem Preis, der lediglich Überleben von unbestimmter Dauer sichert. Die PR- und Werbebranche beschreibt sich selbst als kreativ. Genau diese Kompetenz gilt es zu nutzen, um wieder auf traditionelle Weise auf sich aufmerksam zu machen. Journalisten sind Entdecker. Kürzungen der Werbebudgets vorzunehmen, um mehr Energie in die PR-Arbeit zu investieren und so womöglich die redaktionellen Inhalte einer eigenständigen Zunft mitzubestimmen, ist verschenkte Mühe. Journalisten sind selbstbewusste Individualisten. Ich meine, dass die große Rolle von Selbstbestimmung und Qualitätsbewusstsein bestehen bleibt. Es ist das Zusammenspiel von Kommunikation, Kultur, Politik und Ethos, das zählt und schwarze Zahlen schreibt. Ein Medium mit fesselnden Reportagen, authentischen Stimmen und ehrlichen Beiträgen, durchwebt von Bildgewalt in Sprache und Fotografie hat Zukunft. Ebenso der ansprechend gezeichnete journalistische Beitrag, einer Dramaturgie gleich, der Ansporn, durch Aufklärung Veränderungen in Gang zu setzen, sowie der Schutz unserer hart erkämpften Meinungs- und Pressefreiheit. Nicht auszudenken, ohne Journalismus auszukommen.

Ein mächtiges Werkzeug der allgemeinen Meinungsbildung, welches nicht schamlos ausgenutzt werden darf. Journalismus geht den Bach herunter, wenn Journalisten in regionalen Verlagshäusern auf Grund von Preiskämpfen keine Möglichkeiten mehr haben eine angemessene Qualität abzuliefern.

Der Journalismus steht am Scheideweg. Ihm geht es ein bisschen wie dem gedruckten Buch, die neuen Medien scheinen ihm den Rang abzulaufen. Doch eine gedruckte Zeitung ist schon alleine wegen ihres Papieres ein haptisches Erlebnis und nicht durch einen sterilen Computer zu ersetzen! Partizipation der Leser? Findet doch durch Leserbriefe statt. Eine Wochenzeitung versuchte einige Zeit Beiträge ihrer Leser aus ihrem Blog zu veröffentlichen. Vielleicht werden eines Tages Bürger einen Teil der Redaktion, vor allem im regionalen Ressort, ausmachen, wer weiß? Die Zukunft der (gedruckten) Zeitung steht in den Sternen. Mit ihr stürbe ein Stück Kulturgeschichte.

Der authentische Journalismus wird immer mehr in den Hintergrund rücken, da die großen Medienhäuser der Welt ausschließlich durch Politik und Wirtschaft Luft zum atmen erhalten. Dies wiederum gibt kleinen Medienhäusern und freien Journalisten die Chance sich zu beweisen, hierbei liegt dann die Kunst in einer großen Masse zwischen Richtig und Falsch zu differenzieren...
Thomas Bigliel, Geschäftsführer der Politnetz AG und Preisträger des Grimme Online Awards