
Warum bin ich plötzlich Allergiker?
Der Frühling kommt, die Erkältung bleibt. Aus einer Woche werden zwei, dann drei und irgendwann ist klar: Das ist gar keine Erkältung, das ist eine Allergie. Schreiben Sie uns, wie Sie Ihr Leben mit einer Allergie meistern.

Hilfe vom Profi
Die Themen Allergien und mehr noch Unverträglichkeiten im Allgemeinen treiben viele Menschen um. Vor allem chronische Beschwerden werden nicht selten als Reaktion des Körpers auf bestimmte Lebensmittel interpretiert. Eine Folge dieser Vermutung sind oft umfangreiche Auslassversuche auf eigene Faust. Derzeitige Hauptverdächtige sind Weizen beziehungsweise dessen Klebereiweiß Gluten, Milch, Histamin oder eine als FODMAPs bezeichnete Gruppe von Kohlenhydraten. Doch Auslassversuche ohne diätetische Betreuung sind nicht risikolos: Nährstoffe werden meist nicht adäquat ersetzt, eine Überprüfung des vermuteten Zusammenhangs findet nicht statt und die Vielfalt der Ernährung als Voraussetzung für Darmgesundheit wird massiv eingeschränkt. Dabei entstehen Allergien im Erwachsenenalter vor allem aufgrund von pollenassoziierten Kreuzreaktionen, was in erster Linie eine Einschränkung des Verzehrs von rohem Kern- und Steinobst, Haselnüssen und wenig verarbeiteten Sojaprodukten bedeutet. Auch Laktoseintoleranz und Probleme bei der Aufnahme großer Fruchtzuckermengen können relevant sein. Doch auch dann wird ernährungstherapeutisch nicht mit Meidung gearbeitet, sondern mit einer auf die individuelle Situation angepassten Kost. Auslassdiäten sollten daher niemals ohne ernährungstherapeutische Begleitung durchgeführt werden, da die Risiken zum Teil erheblich sind. Adressen für Ansprechpartner finden Interessierte beim Deutschen Allergie- und Asthmabund.

Auf falscher Fährte
Menschen, die eine Allergie bekommen, haben genetisch festgelegt die Neigung, besonders kräftig mit dem Immunsystem reagieren zu können – grundsätzlich eine gute Eigenschaft. Nur richtet sich das Immunsystem bei der Allergie versehentlich gegen eigentlich harmlose Umweltstoffe wie Pollen oder Hausstaub. Die Ursachen liegen zum einen darin, dass Pollen in der Stadt mit Schadstoffen belastet sind. Diese führen zu einer Irritation, etwa der Nasen- oder Augenschleimhaut, und das wiederum reizt das Immunsystem. Zum anderen aber ist das Immunsystem auch hierarchisch aufgestellt. Wenn schwere Erkrankungen vorliegen, bei denen Allergiker übrigens eine bessere Chance haben zu überleben, kümmert sich das Immunsystem zunächst um diese. Dies ist Grundlage der sogenannten Hygienetheorie. Wächst man nicht mit gefährlichen Bakterien auf, kümmert sich das Immunsystem um weniger gefährliche Stoffe und nimmt eventuell auch Allergene in den Fokus. Glücklicherweise kann man Allergien inzwischen sehr gut behandeln. Es gibt einerseits die Immuntherapie, die Allergien zurückdrängen kann und das Immunsystem wieder tolerant macht. Gerade jetzt gilt für die Betroffenen jedoch die Botschaft: Symptomatische Behandlung ist wichtig. Medikamente wie nicht müde machende Antihistaminika oder Cortison-Nasensprays, die nicht mehr in die Blutbahn übergehen, sind jetzt eine gute Möglichkeit, beschwerdefrei durch das Frühjahr zu gehen. Fragen Sie Ihren Arzt hierzu.

Immunsysteme können lernen
Warum Kinder Allergien entwickeln, ist ein Thema, das mich als Kinderärztin und Forscherin seit langem beschäftigt. In meiner Sprechstunde sehe ich das ganze Spektrum allergischer Erkrankungen, fast so vielfältig wie die Kinder, die ich behandle. Im Einzelfall ist diese Frage nicht zu beantworten. Wissenschaftlich sieht es so aus, dass viele Bausteine zusammenkommen müssen, damit ein Kind eine Allergie entwickelt. Der Endeffekt ist, dass das Immunsystem nicht gelernt oder verlernt hat, nicht auf natürliche Substanzen in der Umwelt wie Pollen, Tiere, Hausstaub oder Nahrungsmittel zu reagieren. Diese Bausteine haben bei allen Kindern unterschiedliche Gewichte. Bei manchen mag die Genetik eine Rolle spielen, wobei es viele verschiedene Gene gibt, die zu einer Allergie beitragen können. Bei manchen mögen schädigende Umwelt- und Lebensstilfaktoren die Waage zur Allergie hin drücken. Die Frage kann man aber auch umdrehen: Warum bekommen die meisten Kinder keine Allergie? Es gibt heute Hinweise darauf, dass das Nichtreagieren auf Umweltallergene ein aktiver Prozess ist, ein wirkliches Lernen von Toleranz, und dass daher die Vermeidung dieser Allergene nicht sinnvoll ist. Für ein erfolgreiches Lernen sind wahrscheinlich Lernhilfen notwendig, zum Beispiel das Aufwachsen auf einem traditionellen Bauernhof, zahlreiche Geschwister, ein Hund früh im Leben und das Fehlen von lernbehindernden Faktoren, etwa eine bestimmte genetische Ausstattung.

Ein Puzzle mit vielen Teilen
Die Frage klingt simpel, die Antwort ist es nicht. Bei Allergien kennen wir nicht nur eine, sondern viele Teilursachen. Grob vereinfacht: Alles dreht sich um Vererbung, Umwelt und Lebensstil – und diese Größen sind eng verzahnt. Hier kommt die Epigenetik ins Spiel, die die Einflüsse der Umwelt auf unsere Erbanlagen untersucht. Viele Allergie-Gene sind bereits bekannt. Sie erklären allerdings nur einen Teil der Vererbbarkeit bei Heuschnupfen, allergischem Asthma oder Neurodermitis. Die weltweite Zunahme allergischer Erkrankungen beruht eher auf Umweltfaktoren: Diskutiert werden urbaner Lebensstil, frühkindlicher Keimkontakt, Mikrobiom, Ernährung, Umweltbelastungen, Medikamente und Allergene. Diese und andere Faktoren steuern wahrscheinlich auch die individuelle Allergiekarriere und ihren Start. Was nützt das dem Allergiker? Ehrlich gesagt wenig, wenn die Allergie bereits besteht. Eher dürften zukünftige Risikokinder aus Allergikerfamilien profitieren. Zuvor muss es gelingen, erfolgreich Tipps zur Vorbeugung zu prüfen und umzusetzen. Statt linearer Kausalität entdecken wir eine Welt vernetzter Teilursachen: Allergien gelten als Paradebeispiel komplexer Gen-Umwelt-Interaktionen. Warum bin ich also plötzlich Allergiker? Individuell lässt sich das schwer entwirren und endet meist in Spekulationen. Für den weltweit wachsenden Bevölkerungsanteil mit Allergien sehen wir schon klarer: Viele Faktoren beeinflussen die Allergieentwicklung.
Imke Reese, Ernährungsberaterin