
Wer forscht für unsere Gesundheit?
Normalerweise arbeiten die Mediziner und Wissenschaftler in der Gesundheitsforschung -von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – in ihren Laboren in aller Ruhe vor sich hin. Wie überlebenswichtig die Arbeit dieser Männer und Frauen tatsächlich ist, zeigt sich in Wochen wie diesen, in denen „normalerweise“ ein Wort aus einer vergangenen Zeit zu sein scheint.

Gut gerüstet
In diesen Wochen und Monaten der Corona-Pandemie schlägt die Stunde von Wissenschaft und Forschung. Das Interesse an wissenschaftlicher Erkenntnis ist groß wie lange nicht mehr. Sie leitet unser Handeln und auf sie richtet sich die Hoffnung vieler Menschen, gerade wenn es um die Suche nach Medikamenten gegen die vom Coronavirus ausgelöste Lungenerkrankung COVID-19 und nach einem Impfstoff geht. Dabei können wir großes Vertrauen in die starke und weltweit bestens vernetzte deutsche Wissenschaft setzen. Die deutsche Forschungslandschaft ist im Bereich Gesundheit vielfältig und stark. Auch im weltweiten Vergleich kann sie sich sehen lassen. Von dieser Stärke profitieren wir in der aktuellen Corona-Pandemie. Forschung lebt von Zusammenarbeit – national und international. Darauf setzen auch wir in der aktuellen Krise. Deutschland ist Gründungsmitglied der internationalen Impfstoffallianz CEPI. Für sie haben wir 140 Millionen Euro zusätzlich bereitgestellt, um der Suche nach einem Impfstoff einen kräftigen Impuls zu geben. National haben wir den Aufbau eines einmaligen Forschungsnetzwerks gestartet, um die deutschen Universitätskliniken im Kampf gegen die Corona-Pandemie noch stärker zu vernetzen. 150 Millionen Euro stehen dafür bereit. Forschung ist ein zentraler Schlüssel im Kampf gegen Corona. Die Bundesregierung tut alles dafür, dass sie die besten Bedingungen für ihre wertvolle Arbeit im Dienste unserer Gesellschaft hat.

Mit vereinten Kräften
Auf 375,6 Milliarden Euro beliefen sich die Gesundheitskosten in Deutschland 2017 laut aktuell verfügbarer Zahlen. Das sind 4.544 Euro pro Einwohner, Tendenz steigend. Sparversuche gehen zunehmend zulasten der Patienten – mit teils dramatischen Auswirkungen, wie uns die aktuelle Situation mit überlasteten Krankenhäusern in ganz Europa vor Augen führt. Damit Gesundheit bezahlbar bleibt, arbeiten 45 von 74 Fraunhofer-Institute interdisziplinär daran, kostenintelligente und innovative Verfahren für die translationale Medizin zu entwickeln. Ziel ist die schnellere Überführung von Ergebnissen der präklinischen Forschung in die Anwendung. Dies gelingt durch neue Schnittstellen und Kooperationsformate zwischen den vier großen medizinischen Bereichen Drugs, Diagnostics, Data und Devices – die vier D. Dafür müssen Ärzte, Naturwissenschaftler, Informatiker und Ingenieure Hand in Hand arbeiten. Fraunhofer vereint diese Berufsgruppen wie keine andere Forschungsorganisation unter einem Dach und kann somit alle vier Bereiche optimal addressieren. So forscht Fraunhofer – nicht nur im Kampf gegen Covid-19 – etwa an der Entwicklung von Impfstoffen, der Umnutzung bereits verfügbarer Medikamente für neue Indikationen oder dem virtuellen Roboter-Screening nach geeigneten Wirkstoffen. Da in der Arzneimittel- und Diagnostikforschung große Datenmengen intelligent ausgewertet werden müssen, fließt hier auch das Know-how unserer KI- und Big-Data-Institute ein.

Komplexer als gedacht
Die Covid-19-Pandemie rückt die Pharmaforschung, die sonst gerne kritisch beäugt wird, in ein hoffnungsvolleres Licht. Meines Erachtens wird das ihrer tatsächlichen Leistung auch gerecht. Sichere Medikamente und Impfstoffe stehen uns nur deshalb zur Verfügung, weil sie von Industrie und Wissenschaft langwierig entwickelt wurden. Dabei gerät häufig eines aus dem Blick: Die Pharmaindustrie agiert nicht losgelöst, sondern innerhalb eines komplexen Geflechts von Akteuren unserer Gesundheitswirtschaft, die auf verschiedenen Ebenen an Entscheidungsprozessen beteiligt sind. Der Staat etwa gibt mit gesetzlichen Rahmenbedingungen und Lenkungsmechanismen gesundheitspolitische Ziele vor. Die Pharmaindustrie verfolgt neben ökonomischen Zielen auch das soziale Ziel, gemeinsam mit öffentlichen Forschungseinrichtungen die Gesundheitsversorgung weiterzuentwickeln. Wie feingliedrig sich dieses System auffächert, wird am medizinischen Alltag der Ärzte deutlich. Bei der Therapiegestaltung für Patienten können sie sich an Leitlinien orientieren, welche von Experten erarbeitet werden, die häufig selbst Ärzte und Forscher in einer Person sind. Denn klinische Studien, also die Erprobung neuer Wirkstoffe an Patienten, werden dort durchgeführt, wo auch sonst die medizinische Versorgung stattfindet: in Krankenhäusern und Praxen. Ich würde es begrüßen, wenn die Wertschätzung für den gesellschaftlichen Beitrag der Pharmaforschung auch über die Pandemie hinaus erhalten bliebe.

Der Prozess läuft
Die schnelle Ausbreitung der Sars-CoV-2-Pandemie zeigt uns, dass wir mit der Impfstoffentwicklung schnell sein müssen. Aber alle Forschung ist hier willkommen, wenn sich deren Ergebnisse mit Daten beweisen lassen. Das Mittel der Wahl sind momentan neue Impfstoffplattformen basierend auf Erbmaterial des Erregers. Aus Vorarbeiten zur Impfstoffentwicklung gegen Mers-CoV ist bekannt, welcher Erregerbestandteil in solchen Impfstoffen enthalten sein müsste. Aber Impfstoffe müssen nicht nur eine ausreichende Wirksamkeit haben, sondern auch von hoher Qualität sein und eine gute Verträglichkeit aufweisen. Sorgfalt bei der Bearbeitung von Genehmigungsanträgen steht an erster Stelle. Als Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel nutzen wir alle regulatorischen und verfahrenstechnischen Möglichkeiten, die Genehmigungs- und Beratungsverfahren zu beschleunigen. Zuletzt haben wir nach mehreren vorbereitenden Beratungen klinische Prüfungen zu Covid-19 innerhalb weniger Tage genehmigt. Wir sind zuversichtlich, dass eine erste klinische Impfstoffprüfung der Phase eins in Deutschland bereits Kürze beginnen wird und weitere im Verlauf dieses Jahres folgen werden. Dies setzt voraus, dass in den laufenden nichtklinischen Untersuchungen keine Verträglichkeitsprobleme entdeckt werden und die Impfstoffkonstrukte die spezifische Immunantwort erzeugen. Dann kann die Herstellung eines geeigneten Impfstoffs gelingen.

Wenn diese Pandemie mal nicht eine super Motivation für unsere Gymnasiasten ist: Jetzt ein gutes Abi schreiben und dann Medizinforscher werden.

Unsere Mission heißt: Impfstoff für die Welt
Wir haben direkt Anfang Januar, als die Virussequenz öffentlich zu- gänglich war, begonnen, einen Impf- stoffkandidaten gegen SARS-CoV-2 zu entwickeln. Unser Impfstoffpro- gramm nutzt die bewährten Technologien AdVac und PER.C6 von Jans- sen, der Pharmasparte von Johnson & Johnson. Diese Technologien kamen schon bei der Entwicklung des Ebola- Impfstoffs von Janssen zum Einsatz, der aktuell in der Demokratischen Republik Kongo und in Ruanda ein- gesetzt wird. Sie wurden auch für die Entwicklung unserer Zika-, RSV- und HIV-Impfstoffkandidaten verwen- det. Ende März ist es uns gelungen, einen Leitkandidaten für die Impf- stoffentwicklung gegen COVID-19 zu identifizieren. Wir arbeiten eng mit dem Beth Israel Deaconess Medical Center (BIDMC) und der Biomedi- zinischen Forschungs- und Entwicklungsbehörde des US-Gesundheits- ministeriums (BARDA) zusammen. Unsere Partner und wir sind zuver- sichtlich, im September mit den kli- nischen Studien beginnen zu können. Parallel erhöhen wir unsere Produk- tionskapazitäten, denn es ist unser Ziel, einen wirksamen und sicheren Impfstoff gegen COVID-19 schnellst- möglich und in ausreichender Menge überall dort zur Verfügung stellen zu können, wo er benötigt wird. Schon Anfang 2021 könnten erste Impf- stoffdosen für die Notfallversorgung verfügbar sein. Bis Ende 2021 wollen wir weltweit mehr als eine Milliarde Impfstoffdosen bereitstellen.

Schutz vor der nächsten Pandemie
Kein Mensch weiß, wie viele Virenarten auf der Welt existieren. Schätzungen reichen bis zu 1031 – das ist eine Zehn mit 31 Nullen. Was wir aber sicher wissen, ist: Alle Viren, die uns Menschen in den vergangenen Jahrzehnten Ärger gemacht haben, sind zoonotische Viren. Also Viren, die von Wirbeltieren auf den Menschen übertragen wurden. Diese Viren stehen im Zentrum unseres Interesses. Ihre Wirtstiere leben oft in abgelegenen tropischen Regionen. Wir reisen daher regelmäßig nach Afrika und Südostasien und suchen im Dschungel nach Wirbeltieren und den mit ihnen vergesellschafteten Viren – erst mit Fallen, dann mit molekularbiologischen Labortechnologien. Nach einer solchen Expedition geht es ins Labor. Wir wollen wissen: Können diese Viren menschliche Zellen infizieren? Machen sie Menschen krank? Wie leicht lassen sie sich übertragen? Nach Jahren mit aufwändigen Laborexperimenten mit den aktiven Viren haben wir Antworten und können einschätzen, welches Risiko von einem Virus ausgeht. Und wenn wir die genetischen Eigenschaften dieser Viren und die Struktur ihrer Proteinbestandteile kennen, können wir sogar eine zuverlässige Diagnostik – die nun dringend benötigten Schnelltests – entwickeln oder auch Impfstoffe. Die könnten wir einsetzen, sobald es zu einer Epidemie mit einem dieser Viren kommt. Das Problem dabei: Allein die Zahl der Säugetier-Viren wird auf mehr als 300.000 geschätzt. Es gleicht der Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

Helden von heute
Ich empfinde es als sehr wohltuend, dass viele in der Gesellschaft jetzt klarer sehen und erkennen, wer die wahren Helden in der Gesellschaft sind. Nicht Instagram-Influencer und Popsternchen, sondern Pflegekräfte, Mediziner und Forscher. Der Zusammenhalt in unserem Land wird nicht durch das Trällern eines Liedchens bestimmt, sondern durch die herausragende Spitzenforschung, die es uns hoffentlich bald mit der Entwicklung eines Impfstoffes ermöglichen wird, unser liebgewonnenes Alltagsleben wieder aufzunehmen und gesund zu bleiben. Woran Politiker oftmals scheitern, machen meines Erachtens Forscher in mustergültiger Weise vor: eine effektive und intelligente Zusammenarbeit auf globaler Ebene. Viele Probleme der Welt lassen sich nur lösen, wenn Menschen kooperieren. Ich bin überzeugt davon, dass die akute Pandemie, aber auch andere Gesundheitsrisiken, durch universale Forschungsnetzwerke lösbar sind. Ich ziehe auch meinen Hut vor Forschern, die in der jetzigen Situation Tag für Tag komplexe Zusammenhänge verständlich erklären, damit alle Bürger den Ernst der Lage begreifen können, ohne zu verzweifeln. Und deswegen trägt der Held von heute kein Designerkleid, sondern einen Kittel.

Entwaffnen statt töten
Antibiotika gelten als zuverlässige Medikamente gegen bakterielle Infektionen. Allerdings werden Antibiotika-resistente Keime zunehmend zum Problem. Woran liegt das? Beim Teilungsprozess von Bakterien kommt es immer wieder zu spontanen Fehlern, sogenannten Mutationen. Erfolgt eine solche Mutation in einem Angriffsziel des Antibiotikums, kann dieses nicht mehr binden und der entsprechende Bakterienstamm überlebt. Es kommt zu einer Selektion dieser resistenten Spezies. Das ist das grundlegende Dilemma aller antibiotischen Wirkstoffe. Eine Alternative dazu ist das Entwaffnen: Bakterien sind nicht per se schädlich. Schadhaft sind vor allem ihre Giftstoffe, die sie herstellen. Gelänge es, diese Giftstoffe auszuschalten, dann würden sie keinen Schaden mehr anrichten und über kurz oder lang über die Immunantwort eliminiert. In meiner Arbeitsgruppe entwickeln wir Wirkstoffe, die einen zentralen Regulator der Infektionskraft von Bakterien ausschalten. Die behandelten Bakterien produzieren keine Toxine mehr und sind entsprechend nicht mehr infektiös. Und da die Bakterien nicht getötet werden, fehlt der Selektionsdruck für Resistenzen. Außerdem bleibt das essenzielle Mikrobiom der Darmflora geschützt und wird nicht wie bei einer Antibiotika-Behandlung ebenfalls entfernt, was zu Nebenwirkungen führen kann. Unser Augenmerk richtet sich nun darauf, aus dieser spannenden Grundlagenforschung einen neuen therapeutischen Ansatz zu entwickeln.

Therapien nach Maß
Asthma ist eine der häufigsten chronischen Krankheiten. Etwa 300 Millionen Betroffene gibt es weltweit. All diese Menschen zählen in der Covid-19-Pandemie zur Risikogruppe, vor allem wenn ihr Asthma schlecht eingestellt ist. Uns von AstraZeneca geht es darum, individuelle Asthmatherapien zu entwickeln, um mehr Patienten zu helfen. Denn Asthma ist nicht gleich Asthma. Es gibt viele Untergruppen, die über die klassische inhalative Therapie hinaus spezifische Behandlungen benötigen. Um diese weiter zu erfassen, verfolgt AstraZeneca einen dreistufigen Ansatz, wobei wir uns als internationaler Pharmakonzern so nah wie möglich an der Wissenschaft orientieren: Wir verbessern zum einen die inhalativen Therapien, die weiter die Grundlage der Asthmabehandlung bilden. Zum anderen forschen wir intensiv an biologischen Präzisionstherapien, also Wirkstoffen, die aus oder mithilfe von biologischen Organismen erzeugt werden – wie etwa aus Zellen hergestellte immunologische Antikörper. Das Ziel solcher Präzisionstherapien ist es, die Wirksamkeit und Sicherheit in genau definierten Patientengruppen, also für Patienten mit einer bestimmten Asthma-Art, deutlich zu verbessern. Und schließlich wollen wir langfristig das Fortschreiten der Krankheit stoppen, um den Patienten ein besseres Leben zu ermöglichen. Aktuell befinden wir uns dafür noch in der frühen Entwicklungsphase, aber die bisherigen Ergebnisse stimmen uns sehr zuversichtlich.

Netzwerk mit Erfolg
Aus meiner Sicht ist es ein immenser Vorteil des Forschungsstandortes Deutschland, dass ein Zusammenspiel von Universitäten, öffentlichen medizinischen Instituten und der Pharmaindustrie möglich ist. Natürlich ist im Zuge der Corona-Krise der Fokus der Öffentlichkeit auf Entwicklungen im Zusammenhang mit der Bekämpfung des Virus fixiert. Das heißt aber nicht, dass alle anderen Krankheiten plötzlich verschwunden sind. Gerade bei der Erforschung von Medikamenten bei chronischen Krankheiten und der Krebstherapie hat sich meines Erachtens sehr viel getan in den letzten Jahren, wofür zahlreiche Patienten sehr dankbar sind.
Anja Karliczek, Bundesministerin für Bildung und Forschung