
Was sind die Waisen der Medizin?
Bei seltenen Krankheiten ist der Name Programm – oder haben Sie schon mal von der Ebstein-Anomalie, dem Gardner-Syndrom oder gar von Akrocephalosyndaktylie gehört? Bei grob geschätzt mehr als 7.000 verschiedenen seltenen Erkrankungen ist das aber kein Grund zum Wundern. Was uns angesichts dieser Vielzahl an Gebrechen dagegen brennend interessiert: Welche Krankheit wird Ihrer Meinung nach vernachlässigt?

Gezielt forschen
Seltene Erkrankungen betreffen vor allem die Schwächsten in unserer Gesellschaft. Mindestens eintausend Kinder sterben jährlich allein in Deutschland an einer der bis zu 8.000 heute bekannten Seltenen Erkrankungen. Oft sind es daher junge Familien, die sich bei der Geburt ihres ersten, zweiten oder auch dritten Kindes plötzlich mit einer sehr ernsten und nicht selten lebensverkürzenden Krankheit konfrontiert sehen. Dann fehlt es plötzlich an eigentlich Selbstverständlichem: an verlässlichen Informationen, an Ärzten, die sich auskennen und an adäquaten Therapiemöglichkeiten. Gezielte medizinische Forschung kann dies ändern, wie wir am Beispiel der Mukoviszidose sehen: Dass heute doppelt so viele Betroffene wie noch vor 20 Jahren das Erwachsenenalter erreichen, ist vor allem dem ambitionierten Zusammenwirken von Patientenorganisationen und Forschung zu verdanken. Trotz großer Fortschritte in der Therapie ist die Lebenserwartung jedoch noch immer stark verkürzt. Deshalb freut es mich, dass wir dieses Jahr mit Prof. Thorsten Marquardt einen Wissenschaftler mit unserem Forschungspreis auszeichnen, der einen aussichtsreichen neuen Therapieansatz für diese seltene Lungenkrankheit verfolgt. Ich bin überzeugt, dass leistungsfähige Diagnostik und hochpräzise therapeutische Verfahren heute nie dagewesene Möglichkeiten eröffnen. Wir als Gesellschaft sind gefordert, allen Menschen die Teilhabe am medizinischen Fortschritt zu sichern.

Oft zu spät erkannt
Seltene angeborene Erkrankungen – das Thema betrifft Sie nicht? Eine seltene Erkrankung haben etwa zwei Prozent aller Menschen, jeder 50. in der Bevölkerung. Aber es gibt viele tausend verschiedene Erkrankungen. Oder haben Sie schon von einer SLC52A2-Defizienz gehört? Ihr Arzt wahrscheinlich auch nicht. Weil sich kein Arzt all diese Erkrankungen merken kann, beträgt der Zeitraum bis zur Diagnose meist mehrere Jahre. Verlorene Zeit für die Therapie. Die SLC52A2-Defizienz ist eine unweigerlich tödliche Erkrankung. Es geht los mit einer Schwäche in Beinen und Armen, nach wenigen Monaten oder Jahren braucht man eine Beatmungsmaschine, kann nicht mehr sprechen oder schlucken, Arme und Beine können nicht mehr bewegt werden. Ist das vermeidbar? Ja, mit Vitamin B2. Der normale Tagesbedarf liegt bei ungefähr einem Milligramm, bei einer SLC52A2-Defizienz bei mehr als dem Tausendfachen. Wenn man dem folgt, sind alle Symptome vermeidbar. Angeborene seltene Erkrankungen sind häufiger behandelbar als man annimmt. Aber dafür braucht man eine Diagnose. Und jeder Mensch mit einer seltenen Erkrankung hat ein Recht auf eine (frühzeitige) Diagnose. Um das zu erreichen, braucht es Ärzte mit Neugierde, die bei Patienten mit ungewöhnlichen Symptomen unbedingt eine Diagnose stellen wollen und nicht aufgeben. Die Fortschritte der Medizin, insbesondere der genetischen Diagnostik, lassen das Ziel näher rücken: eine frühzeitige Diagnose (und Therapie) für jeden.

Digitalisiert euch
Ein erfahrener Hausarzt erkennt viele Erkrankungen schnell und weiß um die dazugehörige korrekte Therapie. Das ist bei den Waisen der Medizin, den seltenen Krankheiten, anders. Hier kann das Finden der Diagnose sehr lange dauern und kompliziert sein. Findet sich keine Erklärung für die Beschwerden des Patienten, wird oft zwangsläufig ein falsches Krankheitsbild diagnostiziert, was durch eine Fehlbehandlung natürlich ein Risiko für den Patienten darstellt. Selbst für Fachärzte ist es schwer, stets auf dem aktuellen Stand der Forschung zu bleiben. Ein Bekannter von mir ist Arzt. Er liest so viele Fachjournals, wie er eben schafft, und sagt, dass er trotzdem nur einen kleinen Ausschnitt seines Fachgebiets kennt. Wie soll da ein Hausarzt den Überblick in der Flut von Informationen über tausende Krankheiten behalten. Hier braucht es digitale Unterstützung – zum Beispiel durch spezielle Online-Datenbanken, die man als Arzt anhand von Symptomen nach Anhaltspunkten für eine mögliche Diagnose durchsuchen kann. Idealerweise filtert ein lernendes System anhand der Symptome schon eigenständig infrage kommende Krankheiten heraus. Wenn zusätzlich auch eine automatische Vernetzung mit passenden Experten implementiert ist, könnte der Weg zur Diagnose deutlich kürzer werden.

Wie ein 6er im Lotto
Meine Kindheit und Jugend waren geprägt vom Kranksein. Eine Entzündung jagte die nächste. Ständig war die Nase verstopft, sie musste mehrmals jährlich operativ gespült und gefenstert werden, ich hörte schlecht und erhielt mehrmals Paukenröhrchen. Zudem hatte ich chronischen feuchten Husten und einige Lungenentzündungen. Sämtliche Operationen, Rehamaßnahmen und Medikamente brachten keine Besserung. Die Ärzte waren ratlos. Jahrzehntelang irrte ich durch Praxen und Krankenhäuser – eine richtige Odyssee. 2016 dann endlich ein Anhaltspunkt in einer TV-Sendung: ein Kind mit ganz ähnlichen Symptomen – und einer Diagnose! Ich ließ nichts unversucht und tatsächlich diagnostizierten Ärzte eine Primäre Ciliäre Dyskinesie (PCD), eine angeborene seltene Erkrankung, bei der die Flimmerhärchen (Zilien) auf allen Schleimhäuten im Körper eine Fehlbeweglichkeit aufweisen. Dadurch ist die Selbstreinigung aller Schleimhäute, insbesondere der Lunge und Nasennebenhöhlen, eingeschränkt oder gar nicht möglich. Der Schleim bleibt in den betroffenen Organen liegen. Heute bin ich 37 Jahre. Die Diagnose war gefühlt mein 6er im Lotto. Das hat mir so viel Kraft gegeben, nun selbst aktiv zu sein, selbst zu handeln und mit der Therapie endlich „gut“ leben zu können. Seither versuche ich außerdem, PCD in das Bewusstsein der Menschen zu rücken, etwa über Social Media. Als Tempo.tine berichte ich von meiner Therapie, meinem Alltag und der Erkrankung.

Bürde fürs Leben
Ich habe ALD. Bei dieser seltenen Krankheit werden durch einen genetischen Fehler bestimmte Fettsäuren nicht abgebaut. Diese schädigen dann Gehirn, Rückenmark und Nebennieren. Seit meiner Kindheit ist mein Leben stark beeinträchtigt und ein Ende des Leidens ist nicht in Sicht.

Wir wollen keine Waisen sein
In Europa gilt eine Erkrankung als selten, wenn weniger als fünf von 10.000 Menschen von einem Krankheitsbild betroffen sind. Das Au-Kline-Syndrom, eine neurologische Entwicklungsstörung, ist in Deutschland siebenmal verzeichnet, wohingegen 8.000 Menschen hier mit Mukoviszidose leben. Aufgrund der Seltenheit und der Vielzahl gleichermaßen wird zu wenig geforscht. Krankheitsübergreifend haben die Betroffenen vieles gemeinsam: die jahrelange Suche nach der richtigen Diagnose, wenige oder keine Therapien, das fundierte Wissen liegt in wenigen Händen, behandelnde Ärzte, die sich auskennen, sind rar. Im Alltag müssen Betroffene viele Hürden nehmen. Sie kämpfen um Anerkennung in Schule und Beruf, bei Krankenkassen und Ämtern. Sie werden oft nicht ernst genommen, weil ihre Erkrankung unbekannt ist. „Waisen der Medizin“ beschreibt diese Gruppe also ganz gut. Dennoch müssen wir aufpassen, dass diese Bezeichnung nicht zu einem Stigma gerät. Sie wird dem, was die vielen Menschen in Patientenorganisationen aktiv erreicht haben, nicht gerecht. Gerade zum Rare Disease Day, immer Ende Februar, wird ganz besonders deutlich, wie stark, laut und mächtig die Seltenen weltweit sind. Auch in der ACHSE haben wir gemeinsam schon viel für die vier Millionen betroffenen Kinder und Erwachsenen in Deutschland tun können. Mit noch mehr Unterstützung aus Politik, Medizin, Wissenschaft und Forschung können wir noch mehr erreichen. Dafür kämpfen wir.

Schwer erkennbar
Die Herausforderungen bei den Waisen der Medizin beginnen bereits mit der richtigen Diagnose. Wenn eine Erkrankung nur wenige Menschen auf unterschiedlichen Kontinenten betrifft, stellt das die Medizin vor große Herausforderungen. Für Pharmaunternehmen lohnt sich hier die Forschung meist nicht und gewöhnliche Krankenhäuser sind mit der Identifizierung der korrekten Diagnose und der therapeutischen Betreuung von Betroffenen meist überfordert. Umso bedeutender sind alle forschenden Tätigkeiten in dem Bereich, denn viele der seltenen Erkrankungen haben genetische Ursachen. Und weil sie so schwer zu erkennen sind, werden sie oft lange mit anderen Krankheitsbildern verwechselt und dadurch falsch behandelt.

Erwachsenwerden mit seltener Erkrankung
Menschen mit einer seltenen Erkrankung haben ein Recht auf adäquate medizinische Behandlung – in jedem Alter. Seltene Erkrankungen sind oft erblich und chronisch. Daher erfordern sie eine kontinuierliche Betreuung durch spezialisierte Fachärzte. Das trifft auch auf den Phosphatdiabetes (XLH) zu. Infolge einer angeborenen Entwicklungsstörung von Knochen, Zähnen und Bewegungsapparat leben die Betroffenen mit lebenslangen Einschränkungen. Diagnose und Therapie vieler seltener Erkrankungen erfolgen zunächst über Kinderärzte in der Klinik und spezialisierten Zentren. Die Transition, also der Wechsel von der Kinder- und Jugendmedizin zur Erwachsenenversorgung, wird oft zur Herausforderung, vor allem wenn wohnortnah spezialisierte Fachärzte fehlen. Damit der Wechsel ohne Therapieunterbrechung und Informationsverlust gelingen kann, sind auf die Patienten zugeschnittene Versorgungswege notwendig – und mehr Transparenz über die medizinischen Kompetenzzentren und Spezialisten. Wir bei Kyowa Kirin leisten einen Beitrag dazu, dass Patienten ihr Leben lang eine adäquate Versorgung erhalten. So gelten wir als Pionier in der Erforschung von Wirkstoffen zur Behandlung von XLH und weiteren sehr seltenen Erkrankungen. Im Alltag suchen wir den engen Austausch mit Betroffenen und externen Partnern. Unser Ziel ist es, gemeinsam schnellere und bessere Antworten auf Patientenbedürfnisse zu finden, zu denen auch eine gelungene Transition zählt.

Innovation für alle
Menschen, die an einer seltenen Erkrankung leiden, haben es schwer. Oftmals dauert es Jahre, bis überhaupt eine Diagnose gestellt werden kann und bei den meisten seltenen Erkrankungen existiert keine befriedigende Therapie. Um diese insgesamt unbefriedigende Situation zu verbessern, engagieren sich neben Medizinern und Wissenschaftlern auch Organisationen wie die ACHSE und die Eva Luise und Horst Köhler Stiftung. Leider wird von der forschenden Pharmaindustrie oftmals vergessen, dass es nicht nur unsere ethische Pflicht ist, sich um die Seltenen zu kümmern. Das Potenzial, das seltene Erkrankungen auch für die häufigen Erkrankungen in sich tragen, wird oftmals nicht erkannt. Dabei wurden zahlreiche Medikamente nur deshalb entdeckt, weil uns die Seltenen auf die Wirkmechanismen hingewiesen haben, wie etwa bei den PCSK9-Inhibitoren. Mehr noch: Die Notwendigkeit bei den Seltenen, extrem große und komplexe Datenbanken zu bearbeiten, stimuliert die Bioinformatik und zeigt die Bedeutung von Big Data. Aber auch neuartige Therapiestrategien, wie der Einsatz von mRNA-Technologien, verdanken wir oftmals Forschenden, die damit primär seltene Erkrankungen heilen wollten – bei mRNA war es die Mukoviszidose, ein anderes Beispiel sind personalisierte Tumortherapien. So gesehen sind die Seltenen wichtige Innovationstreiber auch für die Häufigen und sollten die entsprechende Wertschätzung und Unterstützung bekommen.

Kombinierte Weisheit
Seltsame Frage. Angesichts tausender Krankheiten interessiert Sie, welche vernachlässigt werden? Mit kommt da eher in den Sinn, danach zu fragen, welche diagnostischen Waisen der Medizin verhindern, Krankheiten überhaupt zu erkennen. Eine Weisheit sagt: Das Häufige ist häufig, das Seltene ist selten. Dahingehend ist eine Anamnese aufzubauen. Doch nicht jeder Arzt ist weise genug, die Waisen zu filtern. In unserer heutigen Zeit schon gar nicht ohne diagnostische Apparatur. Ein auf Gewinn gepoltes Gesundheitssystem bewertet Labor, MRT, CT und so weiter höher als eine Begegnung zwischen Arzt und Patient mit Zeit für Gespräch und physisch direkter Diagnostik von Auge, Hand und Gespür. Der Mensch ist eben mehr als die Summe seiner Zellen. Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) weiß da mit Weisheit auch die Lebensenergie, die spirituellen Anteile des Gegenübers sowie dessen Bereitschaft zur Genesung zu sehen und in die Therapie mit einzubinden. In unserer Schulmedizin suggerieren die diagnostisch technischen Apparaturen leider leicht Allmachtsfantasien, die am Ende sogar einen würdevollen Tod ausblenden wollen. Dennoch gilt es festzuhalten: Erst eine weise Kombination von unserer Schulmedizin und TCM wäre definitiv zielführend, um auch die Waisen im Heer der Krankheiten zu diagnostizieren und zu therapieren. Egal, wie man die dann nennt.

Das geht besser
Ich glaube, wer an einer seltenen Erkrankung leidet, hat es mehr oder weniger doppelt schwer. Nicht nur bekommen diese wenig Aufmerksamkeit und somit wenig Forschung zugute geschrieben, gleichzeitig zeigt unser Gesundheitssystem auch Tendenzen einer Zwei-Klassen-Gesellschaft. Denn oftmals müssen vor allem hier teure Medikamente und Behandlungen selbst gezahlt werden, da viele nicht von den Kassen übernommen werden. Zumindest wird dieses Bild in der breiten Öffentlichkeit gezeigt. Ich hetze nicht gegen unser Gesundheitssystem, denn wir haben es hier wesentlich besser als in vielen anderen Ländern, aber natürlich gibt es auch hier immer Verbesserungspotenzial und Dinge, die alles andere als gut laufen. Hier stellt sich mir oft die Frage: Was wiegt mehr? Das Leben der Menschen oder der schnöde Mammon? Manchmal bin ich mir einfach nicht sicher.

Kräfte bündeln
Die Frage nach Waisen der Medizin lässt einen zu der Erkenntnis kommen, dass wir zurzeit alles sind, aber keine Waisen der Medizin. Ich meine die Covid-19-Pandemie, die sich so wie noch nie eine andere Krankheit in der Neuzeit in das Leben aller Menschen dieses Planeten gedrängt hat. Jeder Einzelne muss seinen Alltag umstellen und auf vieles verzichten. Vor allem sind viele Menschen krank geworden, nicht wenige kämpfen mit den Spätfolgen, die sie noch lange beeinträchtigen werden und deren Ursachen noch nicht wirklich bekannt sind. Zu viele haben die Infektion nicht überlebt. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft versuchen mit allen Mitteln, in dieser Situation Lösungen zu finden. Dabei werden Fehler gemacht und Sackgassen angesteuert. Aber dieses gemeinsame Handeln in einer Situation, von der alle gleichsam betroffen sind, schafft auch ein Gemeinschaftsgefühl und lässt einen wissen, dass man in dieser so oft durchindividualisierten Welt eben doch nicht allein und verwaist ist. Ich wünsche mir, dass wir nach der überstandenen Pandemie dieses Gemeinschaftsgefühl beibehalten und damit anderen Problemen mutig entgegentreten – wie den seltenen Krankheiten.

Helfer in der Not
Familien mit einem kranken Kind und der Diagnose einer seltenen Erkrankung sind besonderen Belastungen ausgesetzt, vor der Diagnosestellung und auch danach. Am Zentrum für seltene Erkrankungen in Bonn (ZSEB) gibt es seit Juli 2020 dank der Unterstützung der ETL-Stiftung Kinderträume eine Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche ohne Diagnose. Gemeinsam mit dem Team des ZSEB und Studierenden der Medizin der Universität Bonn versuche ich, bei unklaren Symptomen den Weg zur Diagnose zu verkürzen. Hierbei setzen wir neben „Altbewährtem“, wie der ausführlichen Anamnese und gründlichen körperlichen Untersuchung, auch auf moderne Technologie: Verfahren aus dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz werden am ZSEB entwickelt, erprobt und auch praktisch eingesetzt, um Muster zu erkennen, die auf eine seltene Erkrankung hindeuten. Regelmäßige Fallkonferenzen, der interdisziplinäre Dialog, die studentische Recherche und der kollegiale Austausch mit den behandelnden Kinderärztinnen und Kinderärzten hat schon mancher Familie helfen können. Und: Da bei langer Krankheitsdauer regelmäßig auch die Seele krank wird und psychosomatische Erkrankungen eine wichtige Rolle spielen, arbeitet im Team des ZSEB auch eine Fachärztin für Psychosomatik. Menschen mit seltener Erkrankung und vor allem Menschen ohne Diagnose fallen leicht durch unser Versorgungsnetz. Das ZSEB will hierfür mit neuen Ideen Helfer in der Not sein.

Viele Fragen
Wer sind die Menschen dahinter? Wie viele Kinder leiden bereits an seltenen Krankheiten? Leiden diese mehr als Menschen, die an „normalen“ Krankheiten leiden? Ich weiß es nicht, aber es würde mich sehr interessieren. Wie lange dauert es, bis die richtige Diagnose gestellt wird, wenn niemand danach sucht, weil die Krankheit zu selten ist? Wie ist das, ewig mit der falschen Diagnose leben zu müssen? Fragen über Fragen.

Der erste Schock setzt Kräfte frei
Die Arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie, kurz ARVC, ist eine seltene genetische Herzerkrankung, die auch heute noch häufig übersehen wird. Das kann fatale Folgen haben, denn unbehandelt kann ARVC auch in jungen Jahren zum plötzlichen Herztod führen, nicht selten ausgelöst durch körperliche Belastung beim Sport. ARVC ist nicht heilbar, Symptome werden medikamentös oder durch Katheterablation behandelt, bei hohem Risiko kann ein implantierter Defibrillator (ICD) vor dem plötzlichen Herztod schützen. Von ARVC betroffene Familien sind einer extremen psychischen Belastung ausgesetzt. Sie kämpfen mit den Folgen der Einschränkung ihrer Lebensqualität, etwa wegen des Sportverbots, mit Ängsten wegen der wiederkehrenden Arrhythmien und mit Schuldgefühlen wegen der Weitervererbung der Genvariante an die Kinder. Der Wunsch nach Austausch mit anderen Betroffenen ließ uns nach dem Tod unserer 14-jährigen Tochter eine ARVC-Selbsthilfeorganisation gründen, die sich durch Aufklärung, Austausch, (inter-)nationale Vernetzung und Förderung der Forschung für eine verbesserte Patientenversorgung einsetzt. Betroffene erfahren bei uns Verständnis, Wärme und Zuversicht. Ärzte sollten bei jeder unklaren Herzrhythmusstörung oder Bewusstlosigkeit sowie bei Fällen von plötzlichem Herztod insbesondere junger Menschen unbedingt an ARVC denken, eine genetische Untersuchung veranlassen und die Patienten an Spezialisten überweisen. www.arvc-selbsthife.org

Mit Daten Leben retten
Wissen über Erkrankungen ist die Grundlage für deren erfolgreiche Behandlung. Doch gerade bei seltenen Krankheiten wird die Forschung durch die geringe Anzahl der Betroffenen und deren oft große räumliche Verteilung noch immer sehr erschwert. Hinzu kommt, dass wir hierzulande allgemein bei der Verfügbarkeit und dem Einsatz der für die Forschung so zentralen personenbezogenen Daten schlecht aufgestellt sind. Abhilfe schaffen könnte hier die sogenannte Datenspende, bei der Patientinnen und Patienten freiwillig ihre Daten freigeben – und damit einen aktiven Beitrag zu einer besseren Diagnose und Behandlung dieser Erkrankungen leisten. Umfragen zeigen eine große Bereitschaft in der Bevölkerung, die angesichts von Corona sogar noch weiter zugenommen hat. Der Weg dorthin bleibt mühsam: Zwar wurde mit der zum Jahreswechsel gestarteten elektronischen Patientenakte eine umfassende Grundlage für Patientinnen und Patienten geschaffen, um über ihre eigenen Daten verfügen zu können, doch werden die potenziellen Mehrwerte nicht voll ausgeschöpft. So wird zum Beispiel die private Forschung ausgeschlossen und damit ausgeblendet, dass 75 Prozent der Forschungsvorhaben in diesem Sektor durchgeführt werden. Es braucht daher einen geregelten Zugang für forschende Unternehmen, nicht zuletzt um zu zeigen, dass Forschung und Innovation im Gesundheitswesen „Made im Germany“ erwünscht sind.

Werkzeugkasten für die Gene
In Deutschland leben rund vier Millionen Betroffene. Viele von ihnen sind seit Jahren auf der Suche nach der richtigen Diagnose. Aktuell gibt es noch zu wenige Behandlungsmöglichkeiten und viele der bisher bekannten seltenen Erkrankungen ist bis heute unheilbar. Von einer seltenen Erkrankung betroffen zu sein, trifft viele Menschen völlig unerwartet. Vor ihnen liegt meist eine lange Odyssee. Oft erhalten sie erst nach mehreren Jahren eine konkrete Diagnose. Betroffene wie auch Angehörige wissen oftmals gar nicht, was auf sie zukommt oder an wen sie sich wenden können. Daher ist es wichtig, die Diagnosezeit zu verkürzen. Ein möglicher Weg ist, über seltene Erkrankungen aufzuklären und so für Betroffene Aufmerksamkeit zu schaffen. Da etwa 80 Prozent der seltenen Erkrankungen erblich bedingt sind, richtet sich die Hoffnung zunehmend auf innovative Behandlungsansätze, die fehlerhafte Erbinformationen reparieren oder durch gesunde Versionen ersetzen. Gentherapeutische Ansätze sind vor allem bei Erkrankungen erfolgsversprechend, die auf einem einzelnen Gendefekt beruhen.

Bewusstsein stärken
Eine seltene Krankheit ist für Betroffene oft ein schweres Schicksal, da bis zur Diagnosestellung oft Jahre vergehen. Patienten, die mit einer solchen Diagnose konfrontiert werden, stehen oft vor der Frage, wie geht es nun weiter und wer kann mir helfen. Oft wissen selbst Hausärzte nicht, was solche Diagnosen bedeuten. So ist es auch bei der Mastozytose. Oft werden die Patienten erst für psychisch erkrankt erklärt, bis das Rätsel ihrer Erkrankung gelöst ist. Wer aber nun denkt, dass nach der Diagnose für die Patienten alles gut wird, irrt sich. Dann beginnt erst die Suche nach einem Spezialisten und geeigneten Therapien. Wir, das Mastozytose Selbsthilfe Netzwerk, haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Patienten wie auch die Ärzte dazu aufzufordern, einen Tryptase-Test machen zu lassen, wenn der Verdacht bestehen könnte, dass es sich um diese sehr seltene Erkrankung handeln könnte. Dieser Test kann schon deutliche Anzeichen für diese Erkrankung sichtbar machen. Des Weiteren setzen wir uns auch für eine gute Vernetzung zwischen den verschiedenen Fachrichtungen ein. Wir versuchen nicht nur, den Dermatologen, Allergologen und Hämatologen zur Seite zu stehen, da diese Erkrankung sich oft hinter anderen Beschwerden versteckt. Aus diesem Anlass haben wir auch den Expertentag für Mastozytose (EXMAS) gegründet, um hier fachübergreifend mehr Aufmerksamkeit zu schaffen. mastozytose-info.de

Systemrelevant
Wer bei der Berichterstattung zu Krankheiten immer viel zu kurz kommt, sind die Menschen, die sich täglich für die, die Hilfe brauchen, engagieren und aufopfern. Die Angehörigen zu Hause und die Ärzte und Pfleger in den Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen leisten oftmals Übermenschliches, eingezwängt in ein Korsett aus Zeit- und Kostendruck und den eigenen Wünschen und Ansprüchen. Dieses Engagement wird oftmals gar nicht bemerkt oder als selbstverständlich wahrgenommen. Leider hat unser Gesundheitssystem hier immer noch viele Defizite, was eine faire Bezahlung von Pflegekräften und eine sinnvolle Unterstützung von pflegenden Angehörigen angeht. Es muss nicht immer ein monetärer Ausgleich sein. Vielmehr sind ein respektvoller Umgang mit Pflegenden und ein Dankeschön schon eine Anerkennung, die ankommt.

Danke!
Ein Leben mit einer seltenen Erkrankung zu führen, ist sicherlich nicht einfach und bedeutet für den Einzelnen eine gewaltige Herausforderung. Wenn Betroffene Menschen hinter sich wissen, die ihnen zur Seite stehen, dann ist das eine große Stütze und Unterstützung. Sie füllen eine Lücke in der Versorgung, die unser Gesundheitssystem nicht leistet. Ich finde, das sollte mehr gewürdigt werden. Egal ob Eltern, Schwester, Nachbar oder bester Freund: Ich habe große Hochachtung vor ihrem Engagement.

Anreize setzen
Heutzutage wird ein Großteil der seltenen Erkrankungen glücklicherweise bereits in der ganz frühen Kindheit bei den betreffenden Personen bemerkt und im Idealfall auch bald darauf diagnostiziert. Bis zur genauen Diagnose kann es gelegentlich zwar noch sehr lange dauern, aber das rechtzeitige Bemerken ist der erste große Schritt bei der Behandlung und bereits ein sehr großer Fortschritt zu früheren Zeiten. Aufgrund des Engagements einzelner Mediziner ist dadurch die Lebenserwartung bei Menschen mit seltenen Erkrankungen in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich angestiegen. Trotz einer frühzeitigen Diagnose stehen die meisten Betroffenen aber noch immer vor dem gleichen Problem: Meistens gibt es noch keine wirkungsvollen Medikamente, die bereits komplett fertig entwickelt, getestet und freigegeben sind. Zudem stehen oft auch noch keine Therapien zur Verfügung, die eine Linderung oder gar eine mittelfristige Heilung versprechen. Daher finde ich es äußerst traurig, dass sich ausgerechnet die Pharmaunternehmen hier aufgrund der geringeren Profiterwartungen aus der Verantwortung stehlen. Vermutlich kann man die Forschung hier nur mit zusätzlichen Anreizen stimulieren. Lohnen würde sich das.

Mehr Austausch
Es war ein langer Weg bis zur Diagnose ANCA-assoziierte Vaskulitis (AAV). Als sich meine Nase entzündete, habe ich das zunächst als eine Erkältung abgetan. Da kein Mittel half, landete ich nach drei Monaten in der Uniklinik. Schnell stand die Diagnose „schiefe Nasenscheidewand“, man fragte nicht weiter nach. Aber es wurde immer schlimmer: Fieber, blutiger Nasenauswurf, inzwischen hatte ich Löcher in den Trommelfellen und konnte kaum noch hören. Dazu kamen Sehstörungen. Mit den Ärzten kommunizierte ich schriftlich, konnte nicht mehr arbeiten. Schließlich kam ich zu einer Ärztin, die einen ganzheitlichen Ansatz verfolgte und mich ernst nahm. Sie fragte nach dem Geschmackssinn, dem Schwitzen, dem erhöhten Schlafbedürfnis – und so kam es dann zur korrekten Diagnose: AAV. Später erfuhr ich, dass ich sogar noch Glück gehabt hatte, da Lunge und Nieren noch nicht in Mitleidenschaft gezogen waren. Ich würde mir wünschen, dass es mehr Austausch gibt zwischen den Fachbereichen, mehr Interdisziplinarität, mehr Aufklärung. Für Betroffene ist wichtig, dass sie Stress reduzieren, Aufgaben abgeben, einfach gut für sich sorgen mit ausreichend Schlaf, gesunder Ernährung, viel frischer Luft. Man darf sich nicht einfangen lassen von der Krankheit, sondern muss auch das gesunde Leben im Blick behalten. Viele Tipps bekommt man in Selbsthilfegruppen, die sich dank des Pandemie-bedingten Digitalschubs heute besser denn je vernetzen können.

Viel zu verbessern
Wie so viele seltene Autoimmunerkrankungen hat auch die ANCA-assoziierte Vaskulitis (AAV) einen sehr variablen Verlauf. Sie beginnt oft schleichend mit unspezifischen Symptomen. Als entzündliche Erkrankung der kleinen Blutgefäße kann sie potenziell alle Organe betreffen, häufig sind es jedoch Lunge, Niere und der HNO-Bereich. Um bleibende Schäden zu verhindern, ist eine frühzeitige Diagnose entscheidend. Laboruntersuchungen und der Nachweis spezifischer Auto-Antikörper sind dabei zentral. Beste Voraussetzungen für Diagnostik und Therapie bieten medizinische Expertenzentren. Dort ist der Weg zur Diagnose oft kürzer und auch neueste Therapieangebote sind rasch verfügbar. Trotz großer Fortschritte gibt es noch Verbesserungspotenzial: Wünschenswert wäre eine Individualisierung der Therapie. Auch kann der Verlauf bislang nur aufgehalten werden, ultimativ wäre jedoch eine dauerhafte Heilung. Beispielhaft können das oft mit AVV einhergehende Erschöpfungssyndrom weiter untersucht und Rehamaßnahmen besser angepasst werden. Auf Patientenseite sind ein besseres Krankheitsverständnis, aber auch Geduld und die Einbindung des sozialen Netzwerkes entscheidend. Entlastung, auch durch Selbsthilfegruppen, ist genauso wichtig wie Impfungen, um unnötige Risiken zu vermeiden. Da AAV-Patienten ein erhöhtes Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf haben, sollten sie sich unbedingt impfen lassen – idealerweise in einer Phase geringer Krankheitsaktivität.

Aus dem Schatten
Wenn man sich mit dem Thema seltene Krankheiten beschäftigt, wird der Begriff der Waisen eigentlich überflüssig. Es gibt unheimlich viele Menschen und Institutionen, die sich um Menschen mit seltenen Krankheiten kümmern. Ich glaube, dass durch Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit die Gesellschaft immer mehr über die Situation von Erkrankten erfährt und ihr bewusst wird, dass dieses Thema durch die Vielzahl der Krankheiten sehr relevant ist. Faszinierend finde ich die Selbsthilfe- und Patientenorganisationen, bei denen sich Betroffene zusammentun, sich gegenseitig stützen und untereinander Hilfe anbieten. Ein großer Wunsch ist, dass dieses Organisationen Hilfe von außerhalb bekommen und ihnen ihre Arbeit, gerade auch in Covid-19-Zeiten, so leicht wie möglich gemacht wird.

Um die Welt für die Waisen der Medizin
„You are the sweaty, stinky and colorful clown on the bicycle“ – das mit Abstand wertvollste Kompliment eines Kindes vom Bett einer Palliativstation in der Kinderklinik in Denver, USA. Ähnlich schöne Rückmeldungen habe ich in unzähligen Krankenhäusern, bei Selbsthilfeorganisationen und betroffenen Familien weltweit seit 2015 gehört. Sechs Jahre auf dem Fahrrad. 40.000 Kilometer in den USA, in Deutschland und 15 anderen europäischen Ländern. Sechs Jahre mit unzähligen Begegnungen, einer Vielzahl von Interviews und Zeitungsartikeln in vielen Sprachen. Regen, Schnee, Sturm, Hitze, Hunger und Durst. Treffen mit Ärzten, Feuerwehrleuten, Sanitätern, erkrankten Kindern und deren Angehörigen. All das, um auf die Schicksale von Kindern mit seltenen Erkrankungen, den Waisen der Medizin, aufmerksam zu machen. All das als „Radbotschafter“ der Care-for-Rare Foundation, die sich weltweit um diese – scheinbar – vergessene Gruppe kleiner Patientinnen und Patienten kümmert. All das mit besonderer Freude im Herzen, wenn mein Besuch – oft verschwitzt und streng riechend – ein Lächeln in ein Kindergesicht gezaubert hat. All das so besonders wertvoll, weil wir alle von diesen Kindern, die mit kindlicher Weisheit oft um die nahe Endlichkeit ihres Lebens wissen, lernen dürfen. Lernen dürfen, uns über jedes noch so einfache Erlebnis freuen zu können. Den Tag, so wie er ist, zu leben und zu genießen. Grund genug, sich für diese Kinder einzusetzen!

Wissen ist teilbar
Ich wünsche mir, dass zwischen den einzelnen Fachbereichen der Ärzte ein besseres Netzwerk entsteht. In der heutigen digitalen Welt müsste es doch wesentlich einfacher sein, ein spezielles Krankheitsproblem mit Kollegen zu diskutieren. Wenn man die Gesundheitssendungen im Fernsehen verfolgt, ist es manchmal erstaunlich, durch welchen Zufall manche Krankheiten erkannt werden. Je breiter ein digitales Netzwerk ausgearbeitet wird, um so mehr müssten auch seltene Krankheiten erkannt werden.

Gebt uns die Mittel
Sophie war schon als Neugeborenes sehr klein. Zunächst entwickelte sie sich ihrem Alter entsprechend, blieb jedoch auffällig klein. Die Mutter begann im Internet zu recherchieren und fand Bilder von Kindern, die so aussahen wie Sophie. Bald vermutete sie dahinter eine seltene Krankheit, das Silver-Russell-Syndrom (SRS). Sophie wurde einem Kinderneurologen und einem Humangenetiker vorgestellt, die die Diagnose bestätigten. Ein bis drei von 100.000 Neugeborenen können mit SRS auf die Welt kommen. Wir Kinder- und Jugendärzte sehen diese seltene Krankheit nur ein- oder zweimal in unserem Berufsleben. Dafür ausgebildet zu sein und im richtigen Moment daran zu denken, ist der entscheidende Punkt. Wir können gut seltene Erkrankungen im Zusammenspiel mit Experten in Kliniken und Spezialambulanzen identifizieren und behandeln. In unserem Gesundheitssystem durchlaufen die betroffenen Kinder jedoch oft eine langen Odyssee von Arzt zu Arzt. Dabei bietet die Humangenetik heute viele Möglichkeiten. Künstliche Intelligenz und Krankheitsregister sollten uns zusätzliche Werkzeuge an die Hand geben, um Seltenes schneller zu erkennen. Stattdessen blockieren ein zu Teil überzogener Datenschutz sowie unzureichende EDV-Strukturen im Gesundheitswesen die schnelle und präzise Kommunikation. Die Förderung von Forschungspraxis-Netzwerken und eine Akademisierung der ambulanten Pädiatrie müssen uns diese Kinder und deren Eltern aber wert sein.

Verstecktes Leiden
Zu Depressionen, Angststörungen und Burnout-Syndrom besteht eine hohe Aufmerksamkeit. Wenig Beachtung finden leider die Anpassungsstörungen. Bei der diagnostischen Abgrenzung besteht eine Grauzone zur BurnoutErkrankung. Denn bei der Anpassungsstörung können die gleichen Merkmale auftreten. Sie sind nur psychogenen Ursprungs, also in der Entwicklungsgeschichte des Patienten zu finden und sollten idealerweise psychoanalytisch aufgedeckt werden. Ein aktuelles Erlebnis löst die Erkrankung aus und blockiert Lösungsstrategien. Der betroffene Patient kann selbst die verdeckten Ursachen nicht identifizieren. In der psychoanalytischen Aufdeckung ist häufig ein falsches Lernverhalten sowie fehlendes oder falsches Kommunikationsverhalten festzustellen. Das impliziert auch die Kommunikation mit sich selbst. Eine Anpassungsstörung lässt sich psychotherapeutisch ohne Medikation gut behandeln – wenn man sie entdeckt.

Durchs Raster gefallen
Zellen, die im Begriff sind, zu entarten, aktivieren das Gen TP53, das die Zellen entweder korrigiert oder abtötet. Menschen mit Li-Fraumeni Syndrom (LFS) haben einen TP53-Defekt. Konsequenz ist ein massiv erhöhtes Krebsrisiko. LFS-Patienten leben länger, wenn sie regelmäßig auf das Vorliegen von Krebserkrankungen untersucht werden. Dies erhöht die Chance, eine Krebserkrankung so früh zu diagnostizieren, dass eine Heilung erzielt werden kann. Hauptuntersuchung ist die Ganzkörperkernspintomografie. Die TP53-Testung wird von den Krankenkassen aufgrund der medizinischen Konsequenzen bezahlt. Trotz des Überlebensvorteils durch Früherkennung sind Krankenkassen nicht verpflichtet, diese zu finanzieren. Daher wird die Kostenübernahme der Ganzkörperkernspintomografie meist abgelehnt. Als Kinderonkologe und Wissenschaftler setzte ich mich für LFS-Patienten und ihre Familien ein. Ich koordiniere Forschungsprojekte, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und von der Kinderkrebsstiftung finanziert werden (krebs-praedisposition.de). Gemeinsam mit einer Mutter, die ihren Sohn an den Folgen des LFS verloren hat, wurde eine international vernetzte Patientenorganisation gegründet, die LFSA (lfsa-deutschland.de). Patienten mit der Diagnose LFS ohne die Möglichkeit der Inanspruchnahme notwendiger medizinischer Maßnahmen sind hilflos. Sie fallen durch das Raster eines reichen Gesundheitssystems.

Blinde Flecken
Mir fallen sofort zwei Krankheiten ein, die nach meiner Meinung stark verwaist sind, obwohl sie nicht selten auftreten. Bei den chronischen Krankheiten möchte ich die Gicht nennen. Jetzt wird sicher sofort angeführt, dass man das ja kenne und im Griff habe. Genau das aber bezweifle ich. Nach meiner Erfahrung wird regelmäßig der nächste Gichtanfall abgewartet, der dann auch meist erfolgreich behandelt wird, aber eben nicht nachhaltig. Die chronischen Folgeschäden wie Nierenschädigungen, die übrigens durch die medikamentöse Akutbehandlung verstärkt werden, sowie Gelenkschäden werden dann als altersgemäßer Verschleiß hingestellt. Weitere Schädigungen an theoretisch allen Organen sind möglich, aber bisher gibt es dazu kaum Forschungsergebnisse. Bei den akuten Erkrankungen wird die Sepsis stark unterschätzt und in sehr vielen Fällen zu spät als lebensbedrohlich erkannt und deshalb eine adäquate Therapie, die es tatsächlich nahezu überall gibt, zu spät eingeleitet. Bei beiden Beispielen handelt es sich also um wohlbekannte Erkrankungen, die aufgrund dieser Tatsache aber falsch, inadäquat oder zu spät behandelt werden – mit, ich würde sagen, katastrophalen Folgen für die Betroffenen.

Die Leichtigkeit in Zeiten der Schwere
Mich berührt und beeindruckt, wie Familien durch das zentrale Thema einer Seltenen Erkrankung zusammenwachsen, wie bewusst sie damit umgehen und wie viel Liebe mitschwingt. Bei einer Auftragsarbeit an der Medizinischen Hochschule Hannover kam ich zum ersten Mal mit diesem Thema in Kontakt. Bis dahin kannte ich Familien, in denen Krankheit eine so große Rolle spielt, nicht. Ich habe gesehen, wie schwer es ist, Schmerzen auszuhalten, Hoffnung auf Linderung oder Heilung zu haben. Jahrelanges Suchen und Warten bis zur Diagnose. Ich habe zwei Kinder mit ganz unterschiedlichen Erkrankungen fotografiert. Felix hat das Wiskott-Aldrich-Syndrom und Josephine das Williams-Beuren-Syndrom. Felix hätte ohne Behandlung eine sehr verkürzte Lebenserwartung. Mich hat bewegt, wie er kämpft, um dann wieder ins kindliche Spiel zu versinken. Verstecken im Krankenhauszimmer war bei seiner Behandlung eines seiner Lieblingsspiele. Josi hat eine geistige Beeinträchtigung, ein schwaches Herz – und einen ganz eigenen Blick auf das Leben. Sie ist sehr musikalisch und emotional, typisch für die Diagnose. Josi ist immer noch sehr empfindsam, wie sie es schon als Kind war: Sie hat Furcht vor lauten Geräuschen, sogar vor dem Surren der Strommasten. Bei einem meiner Besuche hat sie in ihrem Garten eine Rose behutsam abgeschnitten, für einen Jungen aus ihrer Schule. Nur die Blüte, ohne Blumenstiel, mit viel Liebe und Vorfreude aufs Überreichen am nächsten Tag.
Eva Luise Köhler, Vorsitzende des Stiftungsrats Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen